Ägypten offline
Der Blackout am digitalen Suezkanal
Das hat es in der Geschichte noch nicht gegeben: In der Nacht zum Freitag ging ein Land offline. Wie hat die Internetblockade in Ägypten technisch funktioniert? Und ist zu fürchten, dass die Rechnung des Regimes politisch aufgeht?
Von Frank Rieger
01. Februar 2011 Ägypten ist der Schnittpunkt zwischen Europa, Afrika und Asien. Der Suezkanal ermöglicht Schiffen in der physischen Welt, den weiten Weg um Afrika herum abzukürzen. Auch in der Welt der Bits und Bytes geht es um kurze Wege. Die Daten bewegen sich zwischen den Kontinenten durch Glasfaserkabel, die auf dem Meeresgrund verlegt werden. Kabel über Land zu verlegen ist weitaus teurer und riskanter.
Auf dem Weg über Land müssen Schächte gebuddelt und Strecken gewählt werden, die den versehentlichen Baggerbiss ins Kabel unwahrscheinlich machen. Und man muss auf die politische Situation in den Ländern Rücksicht nehmen, durch die die Kabelstrecke führt. Die Telekommunikationsunternehmen sind genau wie die Reeder bemüht, die kürzestmögliche Strecke zu nehmen – und die geht über die schmale Landbrücke zwischen Rotem Meer und Mittelmeer. So ist auch auf den Landkarten der digitalen Welt Ägyptens Suezkanal das Scharnier zwischen den Kontinenten. Die Lebensadern der Netze, die vier Kontinente verbinden, laufen in den großen Telehäusern von Suez und Alexandria zusammen.
© REUTERS
Aus Tunesien kopierte ironische Antwort auf den Abschaltversuch: „Game over, Mubarak!”
Dieser digitale Suezkanal, die Möglichkeit des billigen Anschlusses an die transkontinentalen Daten- und Sprachströme quasi auf der Türschwelle, war für die wirtschaftliche Entwicklung Ägyptens in den letzten Jahren ein ähnlicher Segen wie die Warenflüsse zwischen Rotem Meer und Mittelmeer und der Tourismus. Die Preise für Telefon und Internet sind im Land am Nil seit Jahren niedrig, etliche Telekom-Unternehmen tummeln sich auf dem Markt. Die achtzig Millionen Ägypter besitzen mehr als fünfundfünfzig Millionen Mobiltelefone. Extrem häufig genutzt, oft mit Schmuckanhängern versehen und in farbenfrohe Hüllen gekleidet, sind die Telefone ein Alltagsgegenstand – selbst in ärmeren Schichten und auch für die vielen Analphabeten. Eine Stunde im Internetcafé kostet etwa so viel wie ein Falafel beim Straßenhändler. Facebook und Twitter gehören für Jugendliche genauso zum Alltag wie für ihre Altersgenossen im Westen. Auch Online-Spiele erreichen eine große Verbreitung.
Die digitale Solidarität verbreitete sich wie eine Welle
Am Dienstagabend war es damit erst einmal vorbei. Die Regierung Mubarak hatte es mit der Angst zu tun bekommen. Vor allem die sozialen Netzwerke und Webforen wurden zum Kristallisationspunkt des über Jahrzehnte aufgestauten Unwillens der Bevölkerung über Korruption und Stagnation. Die Regierung versuchte zunächst, durch Blockieren der IP-Adressen der Server für die wichtigsten sozialen Netzwerke, Oppositionszeitungen und großen Webforen der Unruhe Herr zu werden. Das Sperren dieser Adressen, die benutzt werden, um den Netzverkehr auf den unteren Ebenen des Internets zu lenken, ist eine drastische Maßnahme – die aber nur bedingt erfolgreich sein kann. Die Nutzer verwendeten Weiterleitungsdienste – sogenannte Proxies und VPNs – im Ausland. Sie entdeckten, dass die Zensoren nicht alle IP-Adressen ihrer Lieblingsdienstleister erwischt hatten – große Anbieter haben Hunderte IP-Adressen, die sie auch schnell wechseln und ergänzen können. Und die Nutzer fanden massenweise heraus, dass der genau für solche Situationen konstruierte freie Anonymisierungsdienst Tor weiterhin relativ einfach und sicher den Zugang zu ihren Lieblingsseiten ermöglichte.
Invasivere Netzblockade-Methoden wurden angeordnet. Zuerst bekamen Nutzer des staatlichen Anbieters Telecom Egypt keine Daten mehr über ihre Internet-Anschlüsse. Mobiltelefonnetze wurden in den kritischen Vierteln der Städte abgeschaltet. Die Ägypter reagierten, indem Cafés, Firmen und Geschäfte, die noch über funktionierende Internet-Anschlüsse von anderen Anbietern verfügten, ihre WLAN-Drahtlosnetze für jeden frei zugänglich machten. Die digitale Solidarität verbreitete sich wie eine unsichtbare Welle auf den Straßen und Plätzen.
Um kurz nach Mitternacht von Donnerstag auf Freitag schließlich geschah etwas, das in der Welt des Internets so noch nie beobachtet wurde. Ägypten ging offline. Im Abstand von wenigen Minuten konfigurierten die ägyptischen Internetanbieter ihre Router, über die aller Datenverkehr im Land fließt, so, dass sie keine Informationspakete mehr weiterleiten. Die Order scheint um Mitternacht ergangen zu sein, der Abstand zwischen den einzelnen Abschaltungen weist auf eine sequentielle Übermittlung der Anweisungen per Telefon oder Fax hin. Ohne Androhung von erheblichem Unbill schaltet kein Internetanbieter freiwillig sein Netz ab. Auch die Mobilfunkanbieter standen offenbar unter unmittelbarem Zwang.
Al Dschazira reagierte mit professioneller Souveränität
Von Mitarbeitern ägyptischer Mobilfunk-Betreiber sickerte bereits Stunden vor der tatsächlichen Order die Nachricht durch, dass eine Telefon-Blockade geplant sei. Vodafone Ägypten erklärte nach erfolgter Sperrung auf seiner Website auch auf Englisch, dass die lokale Lahmlegung des Mobilfunk-Dienstes auf Befehl der Regierung erfolge und das Unternehmen den Anordnungen folgen müsse. Das Ausmaß der Macht des Staates über die Netzanbieter wurde vollends in der Meldung klar, in der Vodafone am 30. Januar das Wiederanschalten seines Netzes vermeldete: „Wir möchten klarstellen, dass die Behörden in Ägypten die technische Möglichkeit zur Schließung unseres Netzes haben. Wenn sie diese Möglichkeit genutzt hätten, hätte es sehr viel länger gedauert, den Service für unsere Kunden wiederherzustellen. Es gab keine rechtlichen oder praktischen Optionen für Vodafone oder einen der anderen Mobilnetzbetreiber in Ägypten, den Anordnungen der Behörden nicht Folge zu leisten. Zudem ist wesentlich für uns, die Sicherheit unserer Angestellten zu gewährleisten, alle unsere Aktivitäten in Ägypten werden im Lichte ihres Wohlergehens betrachtet werden.“
Der dritte Baustein der Informationsblockade war der Versuch des Abschaltens des arabischen Nachrichtensenders Al Dschazira, der im Laufe der tunesischen und ägyptischen Krisen zu dramatischer Höchstform auflief. Die Bilder von angeschossenen und blutenden Menschen auf den Straßen, Hagelschauern von Tränengasgranaten und absichtlich in die Menge rasenden Polizeifahrzeugen liefen in einem endlosen Stakkato, nur unterbrochen von Interviews, deren politischer Nachrichtengehalt trotz aller neutralen Professionalität an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrigließ. Das Programm der arabischen Al Dschazira-Kanäle war oft noch deutlich drastischer in Schnitt und Bildauswahl als das eher westlichen Sehgewohnheiten angepasste englische Programm. In Ägypten wurde der arabische Live-Kanal vor allem über ein Kanalbündel auf dem Nilesat-Satelliten verbreitet, der von der Regierung kontrolliert wird. Das Nilesat-System ist darauf ausgelegt, mit möglichst einfacher Technik und recht kleinen Satelittenschüsseln in Ägypten empfangbar zu sein.
Am Freitag wurde der Live-Kanal von Nilesat abgeschaltet. Al Dschazira reagierte mit professioneller Souveränität und wechselte in Windeseile auf den vom europäischen Eutelsat-Konsortium betriebenen Atlantic-Bird-4A-Satelliten. Der sendet ebenfalls mit einem kräftigen Signal und befindet sich praktischerweise auf der gleichen Orbit-Position wie die Nilesat-Satelliten – sieben Grad West. Für die Zuschauer war dadurch keine Neuausrichtung ihrer Schüsseln erforderlich, sie mussten lediglich den Sendersuchlauf auf ihrem Empfänger aktivieren. Daraufhin verkündete die Regierung am Sonntag die Schließung des Al Dschazira-Büros in Kairo, entzog dem Sender die Lizenz und seinen Reportern die Presseakkreditierungen. Sicherheitskräfte entfernten die Kamera vom Balkon des Senderbüros, deren Bilder von den Straßenschlachten auf der wichtigsten Brücke von Kairo zu Ikonen der Berichterstattung geworden waren.
Der Schaden für die Wirtschaft dürfte enorm sein
Zusätzlich wird offenbar versucht, den Kanal, auf dem das Al Dschazira-Programm vom Boden zum Satelliten übertragen wird, mit Hilfe von Störsendern zu beeinträchtigen. Zwischenzeitlich waren die Programme des Senders in Ägypten nur unter Schwierigkeiten oder gar nicht zu empfangen. Die Verbindung nach Kairo für die Übertragung von Livebildern zur Al Dschazira-Zentrale ist gekappt. Der Kampf um die Informationshoheit geht also in die nächste Runde. Al Dschazira hat erklärt, man lasse sich nicht beeindrucken und werde weiter intensiv berichten. Die Korrespondenten arbeiten nun aus dem Auto und nutzen Satellitentelefone für die Übermittlung von Berichten und Videobildern. Al Dschazira hat in den Kriegsberichterstattungsmodus umgeschaltet.
Die Internet-Blockade stellte sich bei näherer Betrachtung als löchrig und stellenweise umgehbar heraus. Ein einziger Anbieter hatte nicht abgeschaltet: Noor, ein vorwiegend auf Geschäftskunden spezialisierter Netzprovider, blieb weiter online. An Noor hängen die ägyptische Börse und die Logistiksysteme vieler Unternehmen, insbesondere auch westlicher Konzerne. Ob die Regierung zu viel digitalen Flurschaden in der Wirtschaft fürchtete oder ob Noor über so viel politisches Kapital verfügt, dass es einer Abschaltorder trotzen konnte, ist eine der spannendsten Fragen des ägyptischen Internet-Blackouts. Der Schaden für die Wirtschaft dürfte ohnehin enorm sein.
Nicht angetastet wurde jedoch der digitale Suezkanal, die Glasfaserverbindungen, die durch Ägypten laufen und die Informationen zwischen den Kontinenten transportieren. Abgeschaltet wurden nur die meisten Abzweigungen ins Inland.
Kein Ruhmesblatt westlicher Politik
Der Fluss der Informationen aus und nach Ägypten versiegte bisher nicht. Der Effekt gleicht vielmehr dem eines Damms mit Rissen: Das Wasser strömt mit umso größerem Druck durch die verbliebenen Ritzen und Spalten, und die Informationen, die durchkommen, haben eine umso größere Bedeutung. Die Versuche der ägyptischen Regierung, diese Informationsmangellage für sich zu nutzen, zeugen von einer gewissen Ratlosigkeit. Es gibt keine wirkungsvolle Propaganda, nur vereinzelte Versuche, die aber durchsichtig und hilflos daherkommen. Der bisher wichtigste Versuch, die Proteste zu diskreditieren, waren die Meldungen über Zerstörungen von Mumien im Ägyptischen Museum in Kairo. Die antiken Schätze sind das Nationalheiligtum der Ägypter. Im Internet abgetippten telefonischen Berichten aus Kairo zufolge waren es jedoch nicht zufällige Plünderer, die dort versuchten, Schaden anzurichten, sondern Regierungsschläger mit klarem Auftrag. Nachdem jedoch zuvor ausführlich über die Menschenketten um das Museum berichtet worden war und Sondereinheiten der Armee dort Position bezogen, wurde schnell klar, dass es sich offenbar um einen gezielten Versuch zur Diskreditierung der Proteste handelte.
Propagandistische Hilfe für die Regierung gibt es aus dem befreundeten Ausland. Der andere große arabische Nachrichtensender Al Arabija, finanziert vom saudischen Herrscherhaus, berichtete nur so lange umfangreich aus Ägypten, bis die saudische Regierung ihre Solidarität mit Mubarak erklärt hatte. Danach fokussierte sich die Berichterstattung kaum noch auf aktuelle, kritische Protestereignisse. Stattdessen wird nun vorwiegend über Plünderungen und Chaos berichtet und der politische Hintergrund der Proteste ausgeblendet.
Auch anderswo im Ausland bemühte man sich um „Stabilisierung“ - kein Ruhmesblatt westlicher Politik. Peinlich und mühsam wirkte das Winden und Lavieren der amerikanischen Außenpolitik, das Ausblenden Ägyptens bei der Rede Obamas an die Nation. Klaffend sichtbar wurde die kognitive Dissonanz zwischen postuliertem Informationsfreiheitsanspruch und dreckiger Realpolitik zur Unterstützung eines geostrategisch opportunen Regimes. Als dann noch die Bilder von massenweise verschossenen „Made in USA“-Tränengasgranaten auftauchten, war der moralische Anspruch vollends verspielt.
Die schiere Masse der Unzufriedenen
Die Versuche zur Informationsblockade machen die Menschen in Ägypten erst recht wütend. Die Proteste am Freitag wurden dann auch mit Hilfe einer anderen Technologie-Revolution koordiniert, die sich nicht zentral unterbinden lässt: billige Drucker und Kopierer, auf denen professionell gemachte Anleitungen für Demonstrationstaktik und Slogans vervielfältigt wurden. Die Flyer wurden dann bei den Freitagsgebeten verteilt.
Die Netzabschaltung hatte offenbar noch einen anderen Effekt: Plötzlich gab es keinen Grund mehr, vor dem Bildschirm zu sitzen und dort zu lesen, wie sich die Proteste entwickeln. Um mitzubekommen, was los ist, muss man auf die Straße gehen. Und wenn man schon dort ist, kann man auch gleich mitdemonstrieren. Die schnell kursierende Bemerkung, dass es sicher half, dass die vielen Jugendlichen, die in Online-Spielen die Taktiken zu Schwarmangriffen auf überlegene Gegner trainiert haben, nun auf der Straße mitmachen, war nur halb scherzhaft gemeint.
Der freie Fluss von Informationen und Daten ist für autokratische Regierungen schon immer problematisch gewesen. Je geschlossener das Gesellschaftssystem, desto wichtiger die Informationskontrolle für die Stabilität der Machtstrukturen. Regime in aller Welt haben nach einer kurzen Übergangsphase einen Umgang mit dem Internet gefunden, der sich darauf konzentrierte, ausgewählte Websites zu blockieren und ansonsten die Informationsflüsse zu überwachen. Dadurch konnte man Oppositionelle, Kritiker und ihre Strukturen identifizieren - um sie dann bei entsprechender Gelegenheit mit den altbewährten Polizeistaatstaktiken mundtot zu machen. Dass die ägyptische Regierung sich gezwungen sah, von diesem Prinzip abzuweichen, kann nur eins bedeuten: Die schiere Masse der Unzufriedenen hat die Kapazität der Überwachungssysteme überfordert. Es blieb nur noch der digitale Blackout als Option. Und mit dem Abschalten des Netzes wurden die Proteste durch die Regierung zur Revolution geadelt.
© AFP / Nilesat
Der ägyptische Satelitt Nilesat zeigt am Sonntag eine Fehlermeldung beim Aufruf von Al Dschazira