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Friday, February 18, 2011

Die Kinder der Facebook-Revolution

Staaten im Umbruch

Die Kinder der Facebook-Revolution

Wie kommt es zu Umstürzen? Mit Armut und Unterdrückung allein lassen sich Revolutionen nicht erklären. Massenproteste hängen vom Bestrafungsrisiko eines jeden Einzelnen ab. Das verringert sich, wenn Proteste über das Internet koordiniert werden.

Von Thomas Apolte und Marie Möller
Generation Facebook? Ein Demonstrant mit Transparent in KairoGeneration Facebook? Ein Demonstrant mit Transparent in Kairo
19. Februar 2011 
Wie die Weltöffentlichkeit vor mehr als zwei Jahrzehnten in einer Mischung aus Faszination und Sorge auf die ehemals sozialistischen Staaten Mittel- und Osteuropas schaute, blickt sie nun auf Ägypten. Hier wie dort scheint ein Volk bereit, sein Geschick selbst in die Hand zu nehmen, sich nicht mehr bevormunden zu lassen und die Herrschenden nach Jahrzehnten der Misswirtschaft und des Machtmissbrauchs in die Flucht zu schlagen.
Mit solchen Ereignissen lebt der Traum vom gerechten Aufstand der Unterdrückten wieder auf. Er ist so alt wie die Menschheit, er hat Philosophen und Literaten fasziniert und nicht zuletzt auch das einfache Volk selbst. Stets glaubten und hofften die Menschen, dass fortwährende Unterdrückung Widerstand erzeugt und dass sich dieser Widerstand früher oder später zu einem Sturm der Revolution auswachsen muss, welcher die ungerechten Herrscher von ihrem Thron fegt. Indes, je genauer man sich die Dinge ansieht, desto größer werden die Zweifel. Denn wenn es wahr wäre,wie wäre dann die jahrzehntealte Herrschaft des Regimes in Nordkorea zu erklären? Schließlich: Wie wäre dann die Jahrzehnte währende Herrschaft Mubaraks selbst zu erklären?
Siegestrunken in KairoSiegestrunken in Kairo
Die vielleicht traurige Wahrheit ist, dass sich autoritäre Regime vor der Masse der Bevölkerung nur selten fürchten müssen. Mehr noch: Zwischen Armut und Unterdrückung der Bevölkerung und der Wahrscheinlichkeit einer Revolution besteht nach allem, was wir wissen, kein Zusammenhang. Unterdrückte Bevölkerungen zeigen oft über Jahrzehnte hinweg keinerlei Anzeichen von Widerstand und nehmen stoisch hin, dass sie mehr und mehr in Armut und Hunger versinken. Dann aber beobachten wir hin und wieder ein plötzliches Aufbegehren, einen geradezu rauschhaften Aufruhr, welcher sich - meist ausgelöst von scheinbar unbedeutenden Ereignissen - explosionsartig verbreitet und entweder mit einer brutalen Niederwerfung endet oder mit dem Kollaps des Regimes. Und noch etwas beobachten wir: Die Zahl der Fälle, in denen eine Revolution in eine anhaltende Verbesserung der Lage der Bevölkerung mündet, ist leider klein.

Das gilt sogar für Hitler, Stalin oder Mao

Unterdrückung und Armut sind höchstens die notwendige Bedingung einer Revolution. Mit der hinreichenden Bedingung ist es wie mit dem am Hals der Katze klingelnden Glöckchen, von dem die Mäuse träumen, weil es deren Leben so viel sicherer machte. Das Problem der Mäuse aber ist: Wer soll der Katze das Glöckchen umbinden? Ist es einmal da, so ist jede Maus geschützt, egal ob sie sich mutig am Umbinden des Glöckchens beteiligt hatte oder nicht. So lässt jede Maus der anderen gern den Vortritt, und am Ende bleiben sie alle ungeschützt. Ganz analog dazu ist es bei einer Revolution: Wer es in ruhigen Zeiten wagt, einem Diktator die Stirn zu bieten, riskiert seine Freiheit, seine persönliche und berufliche Perspektive und vielleicht gar sein Leben. Am Ende aber könnten alle davon profitieren, wenn einer den Mut hätte, den Diktator zu verjagen.
Aber es kommt noch schlimmer: Eigentlich ist es nie ein einzelner Diktator, der ein Land beherrscht, und das gilt sogar für die Übelsten ihrer Zunft, wie Hitler, Stalin oder Mao. Sie alle sind auf ein System von Loyalitäten in Verwaltung, Polizeiapparat, Geheimdiensten und Militär angewiesen. Deshalb ist es in der Regel nicht damit getan, den Diktator selbst zu aus dem Amt zu entfernen. Man muss es schaffen, das System der Loyalitäten rund um das Regime insgesamt aus den Angeln zu heben. Das gelingt aber nur, wenn eine kritische Masse wichtiger Funktionsträger im Umfeld des Regimes zu einem Wechsel ihrer persönlichen Loyalität bewogen wird.
Kann ein einzelner Mensch etwas dazu beitragen, die Einschätzung hoher Funktionsträger über die Zukunft eines Regimes zu ändern und damit deren Loyalität zu drehen? Die Antwort hängt davon ab, wer der einzelne Mensch ist. Ist er beispielsweise selbst ein hoher Funktionsträger, so mag er in der Lage sein, seinen Kollegen satte Belohnungen für den Fall in Aussicht zu stellen, dass sie sich für den Sturz des Diktators starkmachen. Sind diese Versprechungen glaubwürdig und ist jedes Versprechen an jeden Funktionsträger auch jedem anderen Funktionsträger bekannt, so entsteht ein Gleichgewicht der gegenseitigen Erwartungen. Denn dann wird jeder Funktionsträger es für wahrscheinlich halten, dass alle anderen Funktionsträger die Seiten wechseln, was auch ihm nahelegt, die Seiten zu wechseln. In der Folge kippt das Regime. So etwas geschieht relativ häufig in Diktaturen, aber leider hat es nichts mit einem Volksaufstand zu tun, denn es findet innerhalb konkurrierender Eliten statt. Entsprechend lässt ein solcher Machtwechsel die Bevölkerung in der Regel leer ausgehen.

Auch wenn es zunächst zynisch klingt

Ein wirklicher Volksaufstand erfordert naturgemäß Aktionen einer großen Zahl eher unbedeutender Menschen des Volkes. Kann aber ein einzelner von ihnen hoffen, einen spürbaren Beitrag dazu zu leisten? Das müsste er schließlich, denn sonst wären seine Bemühungen vergebens. Nur: Es geht offenbar nur im Konzert mit einer hinreichend großen Zahl von anderen einfachen Bürgern, und hier fangen die Probleme an. Denn wie soll eine zumeist aus vielen Millionen Menschen bestehende Bevölkerung das Koordinationsproblem bewältigen, welches damit verbunden ist, dass man sich in großer Zahl zur gleichen Zeit und am gleichen Ort zu gefährlichen Protestaktionen zusammenfinden muss mit dem Ziel, eine kritische Masse hoher Funktionsträger vom baldigen Ende des Regimes zu überzeugen, damit diese ihre Loyalität wechseln?
Proteste in KairoProteste in Kairo
Der politische Ökonom Gordon Tullock hat schon 1971 auf das Grundproblem hingewiesen. Auch wenn es zunächst zynisch klingt: Für den Erfolg einer Protestaktion mit vielen tausend, vielleicht Millionen Teilnehmern ist es letztlich unerheblich, ob ein einzelner Mensch sich ebenfalls für die Teilnahme entscheidet oder nicht. Umgekehrt aber drohen ihm im Falle einer Teilnahme mit nicht geringer Wahrscheinlichkeit erhebliche Konsequenzen, etwa in Form von Strafen oder Verletzungen. Strenggenommen ist es daher für einen einzelnen Menschen völlig irrational, an einer solchen Aktion teilzunehmen.
Tullock schloss daraus, dass man mit dem Zweck des Umsturzes die Teilnahme an Massenprotesten nicht erklären kann. Er vermutete andere Motive. Hierzu könnte das vielleicht befriedigende Gefühl gehören, dabei gewesen zu sein und seinen Freunden bewiesen zu haben, dass man sich zu den Werten bekennt, für die der Aufstand steht. Das hat Konsequenzen, und die bestehen hauptsächlich darin, dass die Wahrscheinlichkeit der Teilnahme an Massenprotesten sehr sensibel auf Veränderungen des Erwartungswerts der Bestrafung eines Aufständischen reagiert. Unter dem Erwartungswert der Bestrafung versteht man die Höhe der Strafe, multipliziert mit der Wahrscheinlichkeit, dass sie tatsächlich verhängt wird. Und hierin liegt der Schlüssel zum Verständnis der Dynamik von Volksaufständen.

Wenn die Bestrafungswahrscheinlichkeit sinkt

Vor einem Laden in ÄgyptenVor einem Laden in Ägypten
Ist die Wahrscheinlichkeit der Bestrafung groß, so ist auch der Erwartungswert der Strafe groß. Überlegt sich ein Individuum unter diesen Bedingungen die Sache genau, so wird es feststellen: Protestiere ich, so wird das den Erfolg der Revolution praktisch nicht beeinflussen. Ich werde aber mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Strafe erdulden müssen. Ist die Bestrafungswahrscheinlichkeit hingegen gering, so weiß es: Ich habe zwar kaum Einfluss auf den Fortgang der Revolution, aber ich muss auch kaum mit einer Strafe rechnen. Wenn es dem Individuum einfach nur wichtig ist, dabei zu sein, so wird es genau dann dabei sein, wenn die Bestrafungswahrscheinlichkeit nicht zu hoch ist. Daraus folgt die erste wichtige Regel für einen Diktator. Sie lautet: Schaffe ein Überwachungssystem, welches jeden Bürger zu jedem Zeitpunkt im Unklaren darüber lässt, ob er gerade beobachtet wird oder nicht. Diktatoren bespitzeln ihre Bürger vielleicht nicht so sehr deshalb auf Schritt und Tritt, weil sie wirklich alles über ihre Bürger wissen müssten; vielmehr sollen die Bürger wegen der allgegenwärtigen Bespitzelung zu keinem Zeitpunkt einschätzen können, welche Konsequenzen ihnen bei unbotmäßigem Verhalten drohen. Das ist für einen Diktator fast lebenswichtig.
Je mehr Menschen an Umsturzaktionen teilnehmen, desto eher verlieren die Spitzel den Überblick und desto mehr sinkt die Bestrafungswahrscheinlichkeit. In der Sprache der Spieltheorie gibt es daher je nach Ausgangslage zwei Gleichgewichte. Erstens: Ist die Bestrafungswahrscheinlichkeit zunächst hinreichend hoch, so sinkt die Zahl der Teilnehmer an Protestaktionen, was die Bestrafungswahrscheinlichkeit weiter steigen lässt. Die Aktionen versanden. Das zweite Gleichgewicht: Hat die Bestrafungswahrscheinlichkeit einmal einen kritischen Wert unterschritten, so zieht dies weitere Protestierende an, womit die Bestrafungswahrscheinlichkeit weiter sinkt, was wiederum weitere Protestierende anzieht, und so weiter. Zunächst kleine Proteste können sich jetzt schnell zu unkontrollierbaren Massenaktionen auswachsen. Hat sich das zweite Gleichgewicht einmal eingestellt, dann kann ein Regime den Erwartungswert der Bestrafungen nur noch mit sichtbar drastischen Strafmaßen wieder ansteigen lassen, denn über die Bestrafungswahrscheinlichkeit hat es die Kontrolle verloren. So sah das chinesische Regime 1989 nur noch einen Weg zur Rettung seiner Macht: indem es mit brutaler Gewalt auf dem Platz des Himmlischen Friedens zuschlug.
Fassen wir zusammen: Will eine Bevölkerung ihre Unterdrücker abschütteln, so muss sie sich zur selben Zeit in so großer Zahl zusammenfinden, dass die Sicherheitskräfte den Überblick verlieren und daher die Wahrscheinlichkeit einer Strafe für jeden Teilnehmer so weit sinkt, dass er von Strafen nicht mehr abgeschreckt werden kann. Genau das müsste anschließend eine hinreichend große Zahl hoher Funktionsträger zum Wechsel ihrer Loyalität veranlassen.

Was ist der „fokale Punkt“?

Nur: Solange noch keine Massen auf der Straße sind, ist die Wahrscheinlichkeit einer Bestrafung hoch, und es kann für keinen einzelnen Menschen sinnvoll sein, den ersten Schritt zu tun. Wie könnte man also dafür sorgen, dass mit einem Schlag Hunderttausende auf der Straße stehen, damit die Bestrafungswahrscheinlichkeit unter ihre kritische Schwelle fällt? Wer soll es wagen, den ersten Schritt zu tun? Hierin auch liegt der Grund, warum ein Regime sich um die Masse der Bevölkerung in der Regel keine großen Sorgen machen muss. Denn mit einer hohen Bestrafungswahrscheinlichkeit ist es einem einfachen Menschen ebenso unmöglich, die Lawine einer Massenrevolution in Gang zu setzen, wie es einer Maus unmöglich ist, einer Katze ein Glöckchen umzuhängen. Jeder Protest versandet daher schnell, dazu bedarf es nur ein paar Verhaftungen. Nur manchmal will irgendein Zufall, dass die Dinge sich in einer Weise fügen, dass ein Regime für einen Moment die Kontrolle verliert, und solche Momente können in der Tat Revolutionen auslösen. Leider hat die Wahrscheinlichkeit, dass es solche Momente gibt, mit der Lage der Bevölkerung nichts zu tun. Sie entstehen nicht etwa deshalb häufiger, weil eine Bevölkerung arm und unterdrückt ist. Zunehmende Unterdrückung erhöht daher nicht die Wahrscheinlichkeit einer Revolution.
Der Nobelpreisträger Thomas Schelling, einer der originellsten Köpfe der politischen Ökonomik, stellte einmal die Frage, wie wohl zwei Menschen handeln würden, die sich an einem bestimmten Tag in einer bestimmten Stadt verabredet, aber versehentlich den genauen Ort oder die Uhrzeit nicht bestimmt haben. Es spricht viel dafür, dass jeder von ihnen um 12 Uhr mittags oder um 20 Uhr abends zur Verabredung geht, und man wird vielleicht den Bahnhof, sicher aber die gemeinsame Lieblingskneipe aufsuchen. Denn alles dies erhöht die Wahrscheinlichkeit einer zufälligen Übereinstimmung. Einen Ort, den beide mit der höchsten Wahrscheinlichkeit als den Ort einschätzen, den der jeweils andere wählt, nannte Schelling einen „fokalen Punkt“. Hätte eine revolutionsbereite Bevölkerung einen solchen fokalen Punkt, dann könnte dies das Ende eines Regimes bedeuten. Denn dann könnte die Bevölkerung mit einem Schlag die Bestrafungswahrscheinlichkeit aller Teilnehmer unter die kritische Schwelle drücken und im Anschluss die Erwartungen der hohen Funktionsträger auf einen Regimewechsel hin ausrichten. Aber zu dem fokalen Punkt gehören nicht nur Zeit und Ort von Protesten, sondern viel mehr: das Wissen um den Wunsch aller anderen nach einem Regimewechsel sowie die Bereitschaft der anderen zur Teilnahme an einer Revolution und zur Loyalität mit allen Revolutionären. Wenn das nicht alles gleichzeitig zueinander passt, ist jeder in höchster Gefahr, der sich aus seiner Deckung begibt.
Daraus folgt die zweite wichtige Regel eines autoritären Regimes: Vermeide und unterbinde alles, was der Bevölkerung als fokaler Punkt dienen könnte. Deshalb gibt es in autoritären Systemen in aller Regel keine Versammlungsfreiheit, und die Bildung von Verbänden oder gar harmlosen Sportvereinen ist meist unter strikter staatlicher Aufsicht. Nicolae Ceauescu hat es vermutlich das Leben gekostet, dass er am 21. Dezember 1989 grob gegen die zweite Regel autoritärer Regime verstieß. Auf einer regierungsseitig initiierten Jubelkundgebung für das Regime in Bukarest konnten die zunächst spärlichen, dann aber schnell um sich greifenden Rufe gegen Ceauescu schließlich nicht mehr unterbunden werden, und die Situation geriet außer Kontrolle. Der Diktator selbst hatte die Masse formiert und ihr einen fokalen Punkt geboten.

Der vielleicht größte Vorteil der Demokratie

In Polen gelang es den Kommunisten nie, die Versammlung der unzufriedenen Bevölkerung in der katholische Kirche zu unterbinden. So kam es immer wieder zu Aufständen, und aus der Kirche heraus entstand auch die Solidarno. In dem Begriff der Montagsdemonstrationen der untergehenden DDR steckt schon das Element eines fokalen Punktes, auch wenn es dort insgesamt natürlich weit mehr als der Vereinbarung eines Wochentags bedurft hat. Und für die ägyptischen Protestierenden dürften die Ereignisse in Tunesien Teil eines fokalen Punktes gewesen sein.
Hierin wird der vielleicht größte Vorteil der Demokratie deutlich: Erstens wird der Bevölkerung in festgeschriebenen Zeitabständen und Orten der fokale Punkt für einen koordinierten „Umsturz“ der Regierung zur Verfügung gestellt: die Wahl. Die Ironie ist, dass die Regierung dies auch noch selbst organisieren muss. Zweitens werden die persönlichen Kosten einer Umsturzbeteiligung auf den sonntäglichen Spaziergang zum Wahllokal reduziert. Hierdurch entsteht genau jener Zusammenhang, der Revolutionen abseits unserer romantischen Träume fehlt: der Zusammenhang zwischen der Unzufriedenheit der Bevölkerung und der Wahrscheinlichkeit des Machtverlusts der Regierung.
Die Bevölkerung in einer Diktatur ist dagegen darauf angewiesen, dass sich mehr oder weniger zufällig auftretende Faktoren zu einem fokalen Punkt verdichten, was vielleicht in Jahrzehnten größter Entbehrungen nicht geschieht. Plattformen wie Twitter und Facebook dürften indes auch künftig sprichwörtlich revolutionär wirken, auch wenn sie formale demokratische Strukturen nie ersetzen können. Aber sie erleichtern die Koordination revolutionärer Aktivitäten so sehr, dass sich künftig deutlich häufiger fokale Punkte zusammenbrauen könnten. Insoweit ist der Begriff der Facebook-Revolution durchaus treffend.

Mit Facebook-Unterstützung haben es die Ägypter geschafft

Aber auch eine Facebook-Revolution beseitigt keine Diktatur, sondern nur eine Regierung. Denn der Weg des Umsturzes geht immer über den Wechsel der Loyalität hoher Funktionsträger. Nichts garantiert den Protestierenden von der Straße aber, dass diese den Diktator nicht einfach durch sich selbst ersetzen, statt demokratische Strukturen einzuführen. Regelmäßig singen alle Gruppen und Personen in der Stunde der Revolution das Lied vom Wohl des Volkes. Aber ist die Lage erst einmal beruhigt, dann können sich die neuen Amtsinhaber daranmachen, die Faktoren, die sich zum fokalen Punkt verdichtet haben, wieder in ihrem Sinne anzuordnen. Ist das erst einmal geschehen, dann brauchen sie sich um das Wohl der Bevölkerung wiederum nicht zu scheren, dann sind sie die neuen Herrscher. Pierre Vergniaud, der vier Jahre nach der Französischen Revolution von den Jakobinern zum Schafott geführt wurde, fasste das in seinen berühmten letzten Worten zusammen: Die Revolution ist wie Saturn, sie frisst ihre eigenen Kinder.
Tatsächlich ist die Zahl der Staaten, in denen demokratische Strukturen oder auch nur bessere Herrscher auf eine Revolution folgten, sehr überschaubar, wenngleich es sie gibt. Aber Demokratie braucht mehr als Mehrheitsentscheidungen. Sie braucht ein feingesponnenes Netz von Institutionen und Kontrollmechanismen, welche tief in der Gesellschaft verankert sind. Nur so können neue Herrscher unter die Kontrolle demokratischer Regeln gebracht werden, ohne dass man auf die Formierung eines neuen fokalen Punktes warten muss.
Damit das funktioniert, darf im Prinzip keine bedeutende oder unbedeutende Machtposition an keiner Stelle der Gesellschaft sicher sein vor Wettbewerbern, welche den Trägern dieser Macht über allgemein akzeptierte Regeln die Position streitig machen könnten, und das bis in die letzte Amtsstube und in die letzte staatliche oder halbstaatliche Organisation hinein. Deshalb ist die Entwicklung der modernen rechtsstaatlichen Demokratien eine so große Kulturleistung, aber sie realisierte sich auf einem steinigen Weg voller Rückschläge und Neuanfänge. Mit Facebook-Unterstützung haben es die Ägypter geschafft, einer Katze das Glöckchen umzuhängen. Nun kommt es darauf an, Regeln zu schaffen, die auch jeder neuen Katze ein solches verordnen. Das ist noch einmal eine ganz neue Aufgabe. Sollte sie aber gelingen, dann könnte das der Anfang zur Herausbildung demokratischer Strukturen in Ägypten sein.
Thomas Apolte (50) ist Professor für Volkswirtschaftslehre am Centrum für Interdisziplinäre Wirtschaftsforschung der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster und seit November auch Dekan der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät. Studiert hat Apolte - nach einer Ausbildung zum Elektroinstallateur in seinem Heimatort Krefeld - an der Universität Duisburg. Seine Dissertation über „Die politische Ökonomie der Systemtransformation“ wurde mehrfach ausgezeichnet.
Marie Möller (27) ist Diplom-Volkswirtin und wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Thomas Apolte in Münster. Neben ihrem Studium hat sie als Mathe-Tutorin am Institut für Statistik und Ökonometrie der Freien Universität Berlin gearbeitet. In ihrer Diplomarbeit hat sich die Berlinerin mit Intergenerationaler Mobilität und Chancengleichheit befasst. Derzeit untersucht sie die Zusammenhänge zwischen Demokratiegrad und Wohlstandsniveau. (hig.)
Text: F.A.Z.
Bildmaterial: dpa, REUTERS

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